Als ich ein Kind war, wohnte in unserem Nachbarhaus eine niederländische Familie. Sie hatten vier Kinder. Die beiden Jungs spielten Fußball, so wie ich, die Mädchen sahen spitze aus. „Niedlich“, wie wir damals sagten. Wenn ich nebenan zu Besuch war, schien alles ein bisschen lässiger als bei uns zu sein. Die Tischmanieren, das Fernsehverhalten, der Umgang von Mädchen und Jungs. Und wenn ich mit Paul, dem ältesten Sohn, in seinem Zimmer saß, sah ich an seiner Wand die Poster der niederländischen Teams, für die er schwärmte, und fragte mich, warum auch die Kicker von Ajax, Feyenoord und der Elftal damals in den Siebzigern irgendwie verwegener und cooler aussahen als die deutschen.
Und weil der große Star, Johan Cruyff, stets wie ein Jüngelchen wirkte, hatten es mir besonders Johan Neeskens und Wim Suurbier angetan. Auf den Fotos sahen sie aus, als würden sie neben ihrem Job als Fußballer in einer Glamrock-Band spielen. Die strubbeligen Haare, die Goldkettchen, das Oranje-Trikot über der Hose. Und ständig sah man Fotos der beiden, auf denen sie eine Zigarette im Mundwinkel hatten. Für mich waren das keine schnöden Profis wie Schwarzenbeck oder Vogts. Für mich waren diese Typen wie Popstars, die Weltmeister der Herzen. Dass mein Kumpel Paul auch einen Barcelona-Wimpel besaß, auf dem das Konterfei von Neeskens abgebildet war, verstärkte diesen Eindruck noch. Und als Wim Suurbier 1977 nach 13 Jahren als Außenverteidiger bei Ajax zum FC Schalke 04 wechselte, fiel auch aus meiner norddeutschen Perspektive ein bisschen Sternenstaub auf den königsblauen Kumpelklub ab.
Was ich damals nicht wusste: Als Suurbier in den Pott kam, hatte er seine beste Zeit bereits hinter sich. Als Rechtsverteidiger hinter der kongenialen Achse Cruyff/Neeskens bildete er bei Ajax das solide Fundament für den „Futbol Total“. Damals wurden Leute wie er als „Ausputzer“, als „Männer fürs Grobe“ bezeichnet. Doch wer im Spielsystem von Rinus Michels bestehen wollte, konnte nicht allein mit dem Holzhammer zugeschlagen sein. Die feine Technik seiner Kollegen ging ihm freilich ab, Suurbier kompensierte den Makel deshalb mit Laufbereitschaft bis an die Grenzen zur Selbstaufgabe. Dass er im Ausnahmefall auch mal rustikal dazwischenfahren konnte, war nicht weiter verwunderlich, war es doch eine Fertigkeit, die ein Verteidiger in diesem Zeitalter gewissermaßen noch mit der Muttermilch aufzusaugen hatte.
Er war der, der die Künstler nach dem Spiel mit auf Kneipentour nahm
Suurbier war ein fester Bestandteil der Goldenen Generation. Er war kein Veredler, sondern der Kitt, der die Teams zusammenhielt. Derjenige, der die Künstler nach dem Spiel mit auf Kneipentour nahm, der die Poolparties initiierte und auch dem Leben neben dem Fußball einen gewichtigen Platz einräumte. Auf die großen Erfolge musste er trotzdem nicht verzichten: Mit Ajax gewann er sechs niederländische Meistertitel, vier Mal den Pokal, den Weltpokal und stand bei zwei WM-Finals für die Niederlande auf dem Platz. (Nicht zuletzt, weil Ernst Happel den Sympathicus im Endspiel 1978 auch deshalb in der Schlussphase einwechselte, weil er sicher sein konnte, dass die Kollegen in diesem hitzigen Duell mit den Argentiniern in Buenos Aires auf ihn hören.) Und Suurbier ist für immer mit den epochalen Triumphen von Ajax Amsterdam im Europapokal der Landesmeister verbunden, den der Klub von 1971 bis ’73 drei Mal in Folge gewinnen konnte.
Schalke verließ der laufstarke Defensivmann nach nur einer Saison und 12 Einsätzen wieder – nicht zuletzt weil er gegen das harte Konditionstraining von Uli Maslo aufbegehrte. Und er tat das, was alternde Fußballhelden in den späten Siebzigern so taten: Er tingelte um die Welt und lebte seinen Ruhm ab. Zunächst beim FC Metz in der französischen Liga, 1979 nahm er ein Angebot der Los Angeles Aztecs an und partizipierte wie etliche seiner ehemaligen Teamkollegen von den Fleischtöpfen der damaligen US-Profiliga NASL. Seine aktive Karriere beendete er bei der Seiko Sports Association in Hongkong.
Nach Ende seiner aktiven Laufbahn verlor Suurbier ein wenig den Anschluss. Er, der Trickser, der opferbereite Wasserträger, büßte abseits des Rasens seinen inneren Kompass ein. Sein Sportgeschäft ging pleite. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Seine Liebe zu schönen Frauen und guten Drinks wurde ihm gleich mehrfach zum Verhängnis. Eine Freundin brannte mit seinen mühsam zusammengeklaubten Ersparnissen durch. Mitte der Neunziger unternahm er als Co-Trainer der Juniorennationalelf von Katar noch einmal einen Comebackversuch im Fußball. Doch irgendwie wollte es nicht mehr so recht klappen.
Für „König Johan“ das Frühstück bereitet
Als er mal wieder völlig blank war, besuchte er seinen alten Kumpel Johan Cruyff in Barcelona. „König Johan“ ließ Suurbier das Gästezimmer beziehen und der Ex-Verteidiger bedankte sich auf seine Weise: Indem er während der Tage im Hause Cryuff die Familie jeden Morgen mit einem opulenten Frühstück begrüßte. Geld spielte keine Rolle, alles was reinkam, musste auch wieder raus.
Trotz seines schwierigen Verhältnisses zu wirtschaftlichen Dingen hat er die gut dotierten Angebote von Verlagen, ein Enthüllungsbuch über die Goldene Generation des niederländischen Fußballs zu schreiben stets dankend abgelehnt. Dafür war Wim Suurbier einfach zu lässig und die gemeisamen Erinnerungen an die großen Tage zu erhaben und kostbar.
Am vergangenen Wochenende ist er im Alter von 75 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls in Amsterdam gestorben.
Quelle:
https://11freunde.de/artikel/der-mann-der-die.k%C3%BCnstler-zusammenhielt/2336045